Neem London: Das "Antiseptikum" gegen Fast Fashion
Gegründet vom Branchenveteranen Nick Reed positioniert sich Neem London nicht nur als Bekleidungsmarke, sondern als Gegenbewegung zur Wegwerfmentalität der Fast-Fashion-Industrie. Die erklärte Mission der Marke ist es, Herrenmode zu schaffen, die „null Emissionen, null Schaden und null Abfall“ hinterlässt. Im Gegensatz zu vielen Wettbewerbern, die auf vage, ambitionierte Rhetorik setzen, verankert Neem seine Identität in der „Forensic Sustainability“ und priorisiert Daten aus der Lebenszyklusanalyse (LCA) gegenüber Marketing-Schlagworten. Obwohl die Marke noch jung ist, setzt ihr strategischer Fokus auf die Messung von Auswirkungen „bis zurück zur Farm“ einen hohen Maßstab für Transparenz im KMU-Sektor.
Mehr als Bio: Die Entwicklung zu kohlenstoffarmen Materialien
Neem London hat sich schnell als Vorreiter in der Materialinnovation etabliert und ist über den Standard von „Bio-Baumwolle“ hinausgegangen, hin zu einer anspruchsvollen Strategie mit 50 % recycelten Anteilen. Die Marke verwendet GRS-zertifizierte recycelte Baumwolle, GOTS-zertifizierte Bio-Baumwolle und ZQ-Merinowolle. Der Wechsel von neuen zu recycelten Rohstoffen ist der wichtigste Treiber für die reduzierte Umweltbilanz.
Wichtig ist eine Klarstellung zum Governance-Status der Marke. Obwohl Neem häufig im Kontext der B-Corp-Bewegung genannt wird und mit B-Corp-zertifizierten Webereien wie Reda zusammenarbeitet, ist die Marke selbst derzeit nicht im globalen Verzeichnis von B Lab gelistet. Dieser „ambitionierte“ Status darf nicht mit einer verifizierten Zertifizierung verwechselt werden. Die Zusammenarbeit mit Green Story zur Bereitstellung von ISO-14040-konformen LCA-Daten für jedes Produkt stellt jedoch sicher, dass die Aussagen der Marke auf Zahlen und nicht auf Gefühlen beruhen.
Radikale Transparenz: Sichtbarkeit bis Tier 4
Neem London überzeugt durch eine außergewöhnliche Transparenz in der Lieferkette und veröffentlicht eine Lieferantenkarte, die weit über die Endfertigung hinausgeht. Durch die überwiegende Beschaffung aus dem euro-mediterranen Raum (Italien, Spanien, Türkei, Rumänien) reduziert Neem die Logistikemissionen im Vergleich zur Beschaffung aus Fernost erheblich und mindert viele Risiken moderner Sklaverei, die mit intransparenten Lieferketten verbunden sind.
Die Marke legt Partner in jeder Produktionsstufe offen:
- Tier 1 (Konfektion): Poletti (Italien/Rumänien)
- Tier 2 (Webereien): Albini, Canclini und Sondrio (Italien)
- Tier 3 (Spinnereien): Belda Llorens und Nurel (Spanien)
- Tier 4 (Rohmaterialien): Recover™ für Recyclingfasern und ZQ Merino (Neuseeland)
Planet Impact: Die datenbasierte Kohlenstoffstrategie
Neems „Planet“-Strategie ist durch detaillierte Messungen geprägt. Ein recyceltes Hemd von Neem verursacht laut Berechnung 2,91 kg CO2e, was einer Reduktion von rund 70 bis 80 % gegenüber einem herkömmlichen Hemd aus neuer Baumwolle entspricht, das typischerweise 10 bis 15 kg CO2e erzeugt. Diese Daten ermöglichen es den Konsumentinnen und Konsumenten, die konkrete Wirkung ihrer Kaufentscheidung zu erkennen.
Die Marke beansprucht „Klimaneutralität“, indem verbleibende Emissionen über VCS-zertifizierte Projekte kompensiert werden. Dies ist zwar gültig, unterscheidet sich jedoch vom strengeren „Net-Zero“-Standard (SBTi), der absolute Reduktionen priorisiert. Neems sogenannte Inset-Strategie, etwa der Einsatz erneuerbarer Energien in Webereien wie Nurel (100 % erneuerbar) und Albini (70 % erneuerbar), zeigt jedoch, dass Emissionen an der Quelle reduziert werden, bevor auf Kompensation zurückgegriffen wird.
Zirkularitätswirkung: Den Textilkreislauf schließen
Neem begegnet der Modeabfallkrise mit einem konkreten „Wear Well“-Rücknahmesystem. Kundinnen und Kunden können getragene Teile jeder Marke gegen eine Gutschrift zurückgeben. Diese Kleidungsstücke werden in das Recover™- oder Ferre-System eingespeist, mechanisch zerkleinert und zu neuem Garn versponnen. So wird der Kreislauf effektiv geschlossen.
Entscheidend ist der Fokus der Marke auf Monomaterialien (100 % Baumwolle oder Wolle) oder „binäre Mischungen“ (50/50 Baumwolle), um sicherzustellen, dass Kleidungsstücke am Ende ihres Lebenszyklus technisch recycelbar sind. Diese Designentscheidung vermeidet die problematischen Hybridmaterialien wie Polyester-Baumwoll-Mischungen, die die Textilrecyclingbranche belasten und dazu führen, dass der Großteil moderner Kleidung auf Deponien landet.
People Impact: Die Asymmetrie der Verifizierung
Dies ist die schwächste Säule der Marke. Zwar impliziert die Beschaffung aus Italien und Spanien die Einhaltung strenger EU-Arbeitsgesetze, doch es fehlen konkrete Nachweise zur sozialen Compliance in tieferen Stufen oder bei Produktionsschritten außerhalb der EU, etwa in der Türkei oder in Rumänien. Die Aussage, dass „Arbeiterinnen und Arbeiter einen existenzsichernden Lohn erhalten“, scheint eher auf Vertrauen und gesetzlichen Mindeststandards als auf verifizierten Lohnmodellen zu beruhen.
Derzeit sind keine herunterladbaren SMETA-, BSCI- oder SA8000-Auditberichte zu den spezifischen Produktionsstätten von Neem öffentlich verfügbar. Der unabhängige Bewerter Good On You vergibt für den Bereich „People“ die Bewertung „It’s a Start“ (3/5) und verweist auf fehlende aggregierte Lieferantenübersichten sowie konkrete Nachweise zu Löhnen.
Animal Impact: Tierwohl durch Zertifizierung
Die Standards für das Tierwohl bei Neem sind dank der exklusiven Partnerschaft mit ZQ Merino robust. Die ZQ-Zertifizierung garantiert Mulesingfreiheit und die Einhaltung der „Fünf Freiheiten“ des Tierwohls. Darüber hinaus verbietet die Marke strikt Pelz, Angora, exotische Häute und Daunen und entspricht damit modernen ethischen Standards im Luxussegment.
Fahrplan zur Verbesserung
Um sich von einem „vielversprechenden Herausforderer“ zu einer Marke mit „Goldstandard“ zu entwickeln, muss Neem drei zentrale Bereiche adressieren:
- Offenlegung sozialer Audits: Veröffentlichung des Verhaltenskodex sowie zusammenfassender Auditberichte für Tier-1-Fabriken, insbesondere in Rumänien und der Türkei, um Aussagen zu existenzsichernden Löhnen zu verifizieren.
- Governance-Zertifizierung: Abschluss des B-Corp-Zertifizierungsprozesses zur offiziellen Bestätigung der „Business for Good“-Positionierung.
- Präzise Sprache: Übergang von „Carbon Neutral“ (das in der EU zunehmend regulatorisch geprüft wird) zu Begriffen wie „Carbon Measured“ oder „Climate Financed“, um zukünftige Greenwashing-Risiken zu vermeiden.
Fazit: Führend in der Materialwissenschaft mit sozialen blinden Flecken
Neem London ist ein glaubwürdiges Gegenmittel zur Fast Fashion und bietet eine hohe ökologische Integrität, die die meisten Luxusmarken übertrifft. Die Materialkompetenz bei recycelten Mischungen und die Transparenz bei CO2-Daten sind vorbildlich. Gleichzeitig besteht jedoch eine kritische Asymmetrie: Die Umweltkennzahlen sind forensisch und detailliert, während die soziale Compliance bislang eher anekdotisch bleibt. Für umweltbewusste Konsumentinnen und Konsumenten ist Neem eine sichere und wirkungsvolle Wahl, sofern man akzeptiert, dass der Anspruch auf „ethische Arbeit“ derzeit primär auf den gesetzlichen Schutzmechanismen Europas und nicht auf unabhängiger Drittverifizierung beruht.